
Die entscheidende Grenze zwischen einer normalen Krise und einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung ist nicht die Art des Symptoms, sondern dessen Hartnäckigkeit und der Grad der Alltagsbeeinträchtigung.
- Psychische Diagnosen wie Depression und Burnout sind klar voneinander abgegrenzt und haben unterschiedliche Behandlungswege und Konsequenzen im deutschen Gesundheitssystem.
- Validierte Selbsttests (z.B. PHQ-9 für Depression, GAD-7 für Angst) können eine erste Orientierung über den eigenen Leidensdruck geben, ersetzen aber keine ärztliche Diagnose.
Empfehlung: Der schnellste und niedrigschwelligste Weg zu einer professionellen Einschätzung in Deutschland führt über die Terminservicestelle der Kassenärztlichen Vereinigungen unter der Telefonnummer 116117.
Fast jeder Mensch kennt das Gefühl: eine schlechte Phase, anhaltende Erschöpfung, eine Traurigkeit, die einfach nicht weichen will. Die Grenze zwischen einer vorübergehenden Lebenskrise, einem stressigen Lebensabschnitt und einer beginnenden psychischen Erkrankung ist oft fließend und für Betroffene schwer zu erkennen. Viele fragen sich: „Ist das noch normal?“, „Stelle ich mich nur an?“ oder „Brauche ich wirklich Hilfe?“. Die Unsicherheit ist groß, und die Angst vor Stigmatisierung oder einem komplizierten Weg durch das Gesundheitssystem hält viele davon ab, den ersten Schritt zu tun.
Häufig werden Begriffe wie Stress, Burnout und Depression im Alltag synonym verwendet. Man hört Ratschläge wie „Mach einfach mal Urlaub“ oder „Denk positiver“. Doch diese gut gemeinten Tipps greifen oft zu kurz. Sie verkennen, dass eine echte psychische Erkrankung eine medizinische Ursache hat und eine spezifische Behandlung erfordert. Die eigentliche Frage ist daher nicht, *ob* Sie Symptome haben, sondern *welche* Symptome in welcher Intensität und Dauer auftreten und wie stark sie Ihre Fähigkeit beeinträchtigen, Ihren Alltag zu bewältigen.
Doch was, wenn die wahre Kunst nicht darin besteht, Symptome aufzuzählen, sondern darin, den eigenen Leidensdruck richtig einzuordnen? Dieser Artikel dient Ihnen als diagnostischer Kompass. Als Psychiater zeige ich Ihnen nicht nur die entscheidenden Warnsignale, sondern helfe Ihnen auch, zwischen verschiedenen Zuständen zu differenzieren. Wir beleuchten, wie Sie mit validierten Werkzeugen eine erste Einschätzung vornehmen und vor allem, wie Sie ganz konkret den richtigen Ansprechpartner im deutschen Versorgungssystem finden – ohne Scham und mit klaren, umsetzbaren Schritten.
Dieser Leitfaden gibt Ihnen die Werkzeuge an die Hand, um Ihren Zustand besser zu verstehen und eine fundierte Entscheidung darüber zu treffen, wann und welche Art von professioneller Unterstützung für Sie die richtige ist. Entdecken Sie die strukturierte Herangehensweise, um Klarheit für Ihre psychische Gesundheit zu gewinnen.
Inhaltsverzeichnis: Ihr Wegweiser zur psychischen Gesundheit
- Warum Traurigkeit, Burnout und Depression 3 völlig verschiedene Dinge sind?
- Wie Sie mit 2 validierten Tests Ihr Depressions- und Angstrisiko einschätzen?
- Psychotherapie, Coaching oder Selbsthilfe: was bei welchem Leidensdruck?
- Die 5 Sätze, die auf akute Suizidalität hinweisen und sofortige Hilfe erfordern
- Wie Sie den ersten Schritt zur Psychotherapie machen trotz Scham und Angst?
- Adaptogene wie Ashwagandha oder Verhaltenstherapie: was bei welchem Stresslevel?
- Warum “nicht deprimiert” nicht gleich “glücklich” ist: das Flourishing-Kontinuum?
- Wie Sie psychische Resilienz aufbauen: die 6 Schutzfaktoren gegen Krisen
Warum Traurigkeit, Burnout und Depression 3 völlig verschiedene Dinge sind?
Um zu wissen, wann Hilfe nötig ist, müssen wir zunächst verstehen, worüber wir sprechen. Traurigkeit ist eine normale, gesunde menschliche Emotion, eine Reaktion auf einen Verlust oder eine Enttäuschung. Sie ist in der Regel zeitlich begrenzt und an ein konkretes Ereignis geknüpft. Eine Depression hingegen ist eine ernsthafte, affektive Störung, die das Denken, Fühlen und Handeln tiefgreifend beeinflusst. Die gedrückte Stimmung ist hier hartnäckig, oft ohne erkennbaren äußeren Anlass, und wird von Symptomen wie Freudlosigkeit, Antriebsmangel und Hoffnungslosigkeit begleitet.
Ein besonders häufig verwechselter Zustand ist das Burnout. Viele glauben, es sei eine andere Form der Depression, doch das ist klinisch nicht korrekt. Ein Burnout ist primär ein Zustand der emotionalen, geistigen und körperlichen Erschöpfung aufgrund von langanhaltendem, unbewältigtem Stress am Arbeitsplatz. Entscheidend ist der Kontextbezug: Die Symptome sind eng mit der Arbeit verknüpft und bessern sich oft im Urlaub oder bei einem Arbeitsplatzwechsel. Eine Depression hingegen ist pervasiiv, sie durchdringt alle Lebensbereiche. Die diagnostische Abgrenzung ist von enormer Bedeutung, denn laut der neuen WHO-Klassifikation ICD-11 ist Burnout als „arbeitsplatzbezogenes Phänomen“ (Code QD85) und nicht als eigenständige Krankheit klassifiziert. Depression (Code F32) ist es schon.
Diese Unterscheidung ist im deutschen Gesundheitssystem keine reine Formsache. Da medizinische Diagnosen in Deutschland nach der ICD-10 (bald ICD-11) verschlüsselt werden, hat die korrekte Diagnose direkte Auswirkungen auf Sozialleistungen wie Krankengeld oder die Kostenübernahme für eine Psychotherapie durch die Krankenkassen. Während eine Depression eine klar definierte Diagnose ist, die den Zugang zu diesen Leistungen ermöglicht, ist der Weg bei einem Burnout oft komplexer und erfordert eine sorgfältige Abklärung, ob nicht doch eine zugrunde liegende Depression oder Angststörung vorliegt.
Wie Sie mit 2 validierten Tests Ihr Depressions- und Angstrisiko einschätzen?
Eine professionelle Diagnose kann nur ein Arzt oder Psychotherapeut stellen. Es gibt jedoch validierte und international anerkannte Selbstbeurteilungs-Fragebögen, die Ihnen eine erste, fundierte Einschätzung Ihres aktuellen Zustands ermöglichen können. Diese digitalen Gesundheitsanwendungen oder einfachen Online-Tests sind ein exzellenter Ausgangspunkt, um den eigenen Leidensdruck zu objektivieren und das Gespräch mit einem Fachmann vorzubereiten. Sie helfen dabei, vage Gefühle in konkrete Daten zu übersetzen.

Zwei der am häufigsten genutzten und am besten erforschten Instrumente sind der PHQ-9 für Depression und der GAD-7 für generalisierte Angststörungen. Diese kurzen Fragebögen erfassen die Kernsymptome der jeweiligen Störung über die letzten zwei Wochen. Wichtig ist: Das Ergebnis ist keine Diagnose, sondern ein Indikator für den Schweregrad der Symptomatik. Beispielsweise deutet ab einem Wert von 10 Punkten auf eine klinisch relevante Depression im PHQ-9 hin, was ein klares Signal ist, professionelle Hilfe zu suchen.
Die folgende Tabelle gibt einen schnellen Überblick über die beiden wichtigsten Screening-Tools. Sie zeigt, wie gezielt diese Instrumente sind und warum sie in Praxen weltweit eingesetzt werden, um eine schnelle und zuverlässige erste Einschätzung zu erhalten.
| Tool | Fokus | Fragen | Score-Range | Schwellenwert |
|---|---|---|---|---|
| PHQ-9 | Depression | 9 Fragen | 0-27 | ≥10 klinisch relevant |
| GAD-7 | Angststörungen | 7 Fragen | 0-21 | ≥10 moderate Angst |
Diese Tests helfen Ihnen, die Frage „Wie schlimm ist es wirklich?“ zu beantworten. Ein erhöhter Wert ist ein objektiver Anhaltspunkt dafür, dass es sich wahrscheinlich nicht mehr um eine normale Stimmungsschwankung handelt. Nutzen Sie Ihr Testergebnis als Grundlage, um mit Ihrem Hausarzt oder einem Therapeuten ins Gespräch zu kommen.
Psychotherapie, Coaching oder Selbsthilfe: was bei welchem Leidensdruck?
Die Wahl der richtigen Unterstützung hängt entscheidend vom Schweregrad Ihres Leidensdrucks ab. Nicht jedes psychische Problem erfordert sofort eine Psychotherapie. Eine differenzierte Betrachtung hilft, die passende Hilfe zu finden. Selbsthilfe, beispielsweise durch Ratgeber, Online-Programme, Sport oder Entspannungstechniken, kann bei leichten, vorübergehenden Belastungen oder zur Prävention sehr wirksam sein. Sie stärkt die eigenen Ressourcen, stößt aber an ihre Grenzen, wenn die Symptome hartnäckig sind und den Alltag beeinträchtigen.
Ein Coaching ist sinnvoll, wenn Sie vor konkreten, abgrenzbaren Herausforderungen stehen, etwa im Beruf oder in einer Beziehung. Ein Coach arbeitet ziel- und lösungsorientiert an der Verbesserung von Fähigkeiten und der Erreichung spezifischer Ziele. Er behandelt jedoch keine psychischen Erkrankungen. Die Grenze zur Therapie ist hier entscheidend: Coaching blickt nach vorn, Therapie arbeitet auch Vergangenes auf, um tieferliegende Muster zu verstehen und zu verändern.
Eine Psychotherapie ist dann der richtige Weg, wenn eine psychische Störung mit Krankheitswert vorliegt, wie eine mittelgradige Depression, eine Angststörung oder die Folgen eines Traumas. Hier geht es um die Heilung oder Linderung von Symptomen durch wissenschaftlich anerkannte Verfahren. Viele scheuen diesen Schritt aus Angst vor monatelangen Wartezeiten. Doch das deutsche System bietet hier über die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen eine verlässliche Anlaufstelle: laut der Terminservicestelle 116117 beträgt die Wartezeit zwischen dem Anruf und dem ersten psychotherapeutischen Sprechstundentermin maximal fünf Wochen. In diesem Erstgespräch wird eine erste Diagnose gestellt und die Indikation für eine Therapie geprüft.
In diesem Prozess spielen auch Angehörige eine unschätzbare Rolle, die jedoch selbst Unterstützung benötigen, wie der AOK Familiencoach Depression hervorhebt:
Angehörige sind oft die wichtigste Unterstützung für depressiv erkrankte Menschen. Gleichzeitig sind sie aber durch die Dauerbelastung gefährdet, sich zu überfordern und sogar selbst krank zu werden. Daher ist es ganz wichtig zu verstehen: Am besten helfen kann nur, wer auch gut auf sich selbst achtet.
– AOK Familiencoach Depression, AOK Gesundheitsportal
Die 5 Sätze, die auf akute Suizidalität hinweisen und sofortige Hilfe erfordern
Es gibt Situationen, in denen Zögern keine Option ist. Akute Suizidalität ist ein medizinischer Notfall. Es ist ein weit verbreiteter und gefährlicher Mythos, dass Menschen, die über Suizid sprechen, ihn nicht begehen. Das Gegenteil ist der Fall. Direkte oder indirekte Äußerungen über Lebensmüdigkeit sind ein dringendes Alarmsignal. Wenn Sie bei sich selbst oder bei einem nahestehenden Menschen Gedanken dieser Art bemerken, ist sofortiges Handeln erforderlich. Bestimmte Sätze können auf eine akute Krise hindeuten und sollten niemals ignoriert werden:
- „Ich kann einfach nicht mehr.“ / „Ich halte das alles nicht mehr aus.“
- „Ohne mich wären alle besser dran.“
- „Ich wünschte, ich würde einfach nicht mehr aufwachen.“
- „Ich habe überlegt, wie ich dem allem ein Ende setzen kann.“
- „Bald ist alles vorbei.“
Solche Äußerungen, besonders wenn sie mit Verhaltensänderungen wie sozialem Rückzug, dem Verschenken persönlicher Gegenstände oder einem plötzlichen, unnatürlichen Gefühl der Ruhe einhergehen, deuten auf eine hohe Dringlichkeit hin. In einem solchen Moment ist es nicht die Zeit für beschwichtigende Worte, sondern für schnelles und entschlossenes Handeln. Ihre Aufgabe ist nicht, die Person zu therapieren, sondern sie sicher in professionelle Hände zu übergeben.

Wenn Sie solche Gedanken bei sich oder jemand anderem bemerken, folgen Sie bitte diesem Notfall-Aktionsplan:
- Holen Sie sofort professionelle Hilfe: Rufen Sie den Notarzt unter der Telefonnummer 112 an oder begeben Sie sich in die Notaufnahme der nächstgelegenen psychiatrischen Klinik.
- Kontaktieren Sie die Telefonseelsorge: Sie ist rund um die Uhr anonym und kostenlos erreichbar unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222.
- Suchen Sie den sozialpsychiatrischen Dienst Ihrer Stadt oder Gemeinde auf. Diese bieten schnelle und unbürokratische Krisenberatung.
- Lassen Sie die Person nicht allein: Bleiben Sie bei ihr, bis professionelle Hilfe eintrifft.
In einer akuten Krise zählt jede Minute. Zögern Sie niemals, Hilfe zu rufen. Es ist immer besser, einmal zu viel als einmal zu wenig den Notruf zu wählen.
Wie Sie den ersten Schritt zur Psychotherapie machen trotz Scham und Angst?
Die Entscheidung, eine Psychotherapie zu beginnen, ist gefallen. Doch nun tauchen oft die größten Hürden auf: Scham, die Angst vor dem Unbekannten und die Sorge vor einem bürokratischen Hürdenlauf. Viele stellen sich vor, sie müssten erst mühsam eine Überweisung vom Hausarzt bekommen und dann Dutzende Praxen abtelefonieren. Diese Vorstellung ist eine der größten Barrieren, aber sie entspricht nicht mehr der Realität im deutschen Gesundheitssystem. Der Prozess wurde in den letzten Jahren erheblich vereinfacht, um den Zugang zu erleichtern.
Der wichtigste Schlüssel zum System ist die bundesweit einheitliche Telefonnummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes: die 116117. Diese Nummer ist nicht nur für körperliche Beschwerden da, sondern auch die zentrale Anlaufstelle der Terminservicestellen (TSS) der Kassenärztlichen Vereinigungen. Hier ist der Prozess, Schritt für Schritt:
- Keine Überweisung nötig: Für ein Erstgespräch in einer psychotherapeutischen Sprechstunde (eine erste diagnostische Abklärung) benötigen Sie keine Überweisung von Ihrem Hausarzt. Sie können sich direkt an einen Therapeuten oder die 116117 wenden.
- Rufen Sie die 116117 an: Sagen Sie, dass Sie einen Termin für eine psychotherapeutische Sprechstunde suchen. Die Mitarbeiter dort sind geschult und vermitteln Ihnen einen Termin bei einem Therapeuten in Ihrer Nähe.
- Online-Suche nutzen: Alternativ können Sie über die Webseite `psychotherapiesuche.116117.de` oder `eterminservice.de` selbst nach freien Terminen suchen und diese buchen.
Diese erste Sprechstunde dient der Orientierung. Der Therapeut stellt eine Verdachtsdiagnose, prüft die Notwendigkeit einer Therapie und gibt eine Empfehlung für das weitere Vorgehen. Dieser Termin verpflichtet Sie zu nichts, ist aber ein entscheidender erster Schritt, um aus der Unsicherheit herauszukommen. Er entmystifiziert den Prozess und ersetzt vage Ängste durch einen konkreten Plan. Die Scham verliert an Macht, sobald man den Prozess als das begreift, was er ist: eine medizinische Notwendigkeit, genau wie der Besuch beim Zahnarzt bei Zahnschmerzen.
Adaptogene wie Ashwagandha oder Verhaltenstherapie: was bei welchem Stresslevel?
Stress ist eine der häufigsten Ursachen für psychische Belastungen. Doch auch hier gilt: Stress ist nicht gleich Stress. Die richtige Gegenstrategie hängt von der Intensität und Dauer der Belastung ab. Ein erstes, oft übersehenes Warnsignal für chronischen Stress ist das Gefühl: „Ich habe keine Ruhephasen mehr.“ Wenn der Körper und Geist selbst in Pausen nicht mehr in den Erholungsmodus schalten, ist das ein klares Zeichen für eine überlastete Stressachse. Hier müssen wir zwischen der Bewältigung von normalem bis erhöhtem Stress und der Behandlung einer stressbedingten Erkrankung unterscheiden.
Bei einem überschaubaren, wenn auch hohen Stresslevel können Selbsthilfestrategien und natürliche Unterstützung sehr wirksam sein. Dazu gehören Lebensstiländerungen wie regelmäßige Bewegung, Achtsamkeitsübungen und ausreichend Schlaf. Auch sogenannte Adaptogene, pflanzliche Substanzen wie Ashwagandha oder Rhodiola Rosea, können hier eine Rolle spielen. Sie helfen dem Körper, sich besser an Stress anzupassen und die Balance des Nervensystems zu unterstützen. Ihre Wirkung ist jedoch auf die Regulierung physiologischer Stressreaktionen begrenzt; sie sind kein Heilmittel für eine manifeste psychische Störung.
Wenn der Stress jedoch chronisch wird und zu manifesten Symptomen wie depressiven Verstimmungen, ständiger Anspannung oder sogar Panikattacken führt, reichen Adaptogene und Lebensstiländerungen nicht mehr aus. In diesem Fall sprechen wir von einer stressassoziierten Störung, die eine professionelle Behandlung erfordert. Hier ist die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) eine der wirksamsten Methoden. In der KVT lernen Sie, dysfunktionale Gedankenmuster und Verhaltensweisen, die den Stress aufrechterhalten, zu erkennen und zu verändern. Sie erlernen konkrete Bewältigungsstrategien (Coping-Mechanismen) und Problemlösetechniken, um zukünftigen Stressoren resilienter zu begegnen. Die KVT behandelt also die Wurzel des Problems, nicht nur die Symptome.
Warum “nicht deprimiert” nicht gleich “glücklich” ist: das Flourishing-Kontinuum?
Die moderne Psychiatrie und Psychologie konzentriert sich nicht mehr nur auf die Behandlung von Krankheiten, sondern zunehmend auch auf die Förderung von psychischem Wohlbefinden. Ein zentrales Konzept dabei ist das sogenannte Flourishing-Kontinuum, das vom Psychologen Corey Keyes entwickelt wurde. Es beschreibt psychische Gesundheit nicht als einen binären Zustand (krank vs. gesund), sondern als ein Spektrum. Die Abwesenheit einer Depression bedeutet demnach nicht automatisch, dass man aufblüht und ein erfülltes Leben führt.
Auf diesem Kontinuum gibt es drei Hauptzustände:
- Languishing (Verkümmern): Dies ist der Zustand, den viele Menschen als „so lala“ beschreiben. Man ist nicht depressiv, aber man fühlt sich auch nicht wirklich gut. Es ist ein Gefühl der Leere, der Stagnation und des Mangels an Sinnhaftigkeit. Menschen in diesem Zustand haben ein höheres Risiko, in Zukunft eine Depression oder Angststörung zu entwickeln.
- Moderately Mentally Healthy (Moderat psychisch gesund): Dies ist der neutrale Mittelzustand. Man funktioniert im Alltag, hat aber weder ausgeprägte Symptome einer Krankheit noch ein hohes Maß an Wohlbefinden.
- Flourishing (Aufblühen): Dies ist der Zustand optimalen psychischen Wohlbefindens. Menschen, die „flourishen“, erleben nicht nur positive Emotionen, sondern haben auch ein Gefühl von Sinnhaftigkeit, gute soziale Beziehungen, Kompetenzerleben und persönliches Wachstum. Sie sind nicht nur „nicht krank“, sondern aktiv glücklich und resilient.
Dieses Modell ist revolutionär, weil es den Fokus verschiebt: von der reinen Symptomreduktion hin zur aktiven Förderung von Schutzfaktoren und Wohlbefinden. Es erklärt, warum jemand nach einer erfolgreichen Depressionstherapie zwar nicht mehr die Kriterien für eine Diagnose erfüllt, sich aber trotzdem leer und unzufrieden fühlen kann. Das Ziel ist nicht nur, das „Languishing“ zu überwinden, sondern aktiv in Richtung „Flourishing“ zu arbeiten. Dies kann durch gezielte Interventionen aus der Positiven Psychologie geschehen, wie Dankbarkeitsübungen, das Identifizieren und Nutzen der eigenen Stärken oder das Engagement für ein höheres Ziel.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Unterscheidung zwischen Traurigkeit, Burnout und Depression ist klinisch und für die Behandlung im deutschen Gesundheitssystem entscheidend.
- Validierte Selbsttests (PHQ-9, GAD-7) bieten eine erste Orientierung, ersetzen aber keine ärztliche Diagnose. Der Schwellenwert für eine klinisch relevante Symptomatik liegt oft bei ≥10 Punkten.
- Akute Suizidgedanken sind ein Notfall. Der Notruf 112 und die Telefonseelsorge (0800 111 0 111) sind die richtigen Anlaufstellen.
Wie Sie psychische Resilienz aufbauen: die 6 Schutzfaktoren gegen Krisen
Während die bisherigen Punkte darauf abzielten, Probleme zu erkennen und zu behandeln, ist der nachhaltigste Ansatz für psychische Gesundheit die Prävention. Hier kommt das Konzept der psychischen Resilienz ins Spiel – die Fähigkeit, Krisen, Traumata und Stresssituationen zu bewältigen und sogar gestärkt aus ihnen hervorzugehen. Resilienz ist keine angeborene Eigenschaft, die man hat oder nicht hat; sie ist vielmehr eine Reihe von Fähigkeiten und Haltungen, die man erlernen und trainieren kann. Sie stützt sich auf sogenannte Schutzfaktoren, die wie ein Puffer gegen die Widrigkeiten des Lebens wirken.
Die Forschung hat eine Reihe solcher Faktoren identifiziert. Sechs der wichtigsten sind:
- Soziale Unterstützung: Ein stabiles Netz aus Familie, Freunden und Kollegen, das emotionalen Halt gibt.
- Optimismus und Akzeptanz: Die Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen das Positive zu sehen und unveränderliche Dinge zu akzeptieren.
- Selbstwirksamkeitserwartung: Der Glaube an die eigene Fähigkeit, Herausforderungen aus eigener Kraft meistern zu können.
- Lösungsorientierung: Die Haltung, Probleme als lösbare Aufgaben und nicht als unüberwindbare Bedrohungen zu betrachten.
- Emotionsregulation: Die Fähigkeit, die eigenen Gefühle wahrzunehmen, zu verstehen und zu steuern, anstatt von ihnen überwältigt zu werden.
- Sinnhaftigkeit: Das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein oder ein klares „Warum“ im Leben zu haben, das auch in Krisenzeiten trägt.
Der Aufbau von Resilienz ist ein aktiver Prozess. Es geht darum, diese Schutzfaktoren bewusst im eigenen Leben zu kultivieren. Das kann bedeuten, Freundschaften gezielt zu pflegen, sich bewusst auf die eigenen Erfolge zu konzentrieren, um die Selbstwirksamkeit zu stärken, oder sich durch ehrenamtliches Engagement ein Gefühl von Sinnhaftigkeit zu erschließen. Resilienz zu fördern bedeutet, proaktiv in die eigene psychische Stabilität zu investieren, anstatt zu warten, bis eine Krise eintritt.
Ihr Aktionsplan zur Stärkung der Resilienz
- Soziale Kontakte inventarisieren: Listen Sie alle Personen auf, die Ihnen Halt geben. Planen Sie für die nächste Woche mindestens ein aktives Gespräch oder Treffen.
- Erfolge sammeln: Führen Sie für eine Woche ein „Erfolgs-Tagebuch“ und notieren Sie jeden Abend drei Dinge (auch kleine), die Ihnen gut gelungen sind.
- Kontrollbereich definieren: Nehmen Sie ein aktuelles Problem und ziehen Sie einen klaren Kreis darum: Was davon können Sie direkt beeinflussen, was liegt außerhalb Ihrer Kontrolle? Fokussieren Sie sich nur auf Ersteres.
- Emotionen benennen: Halten Sie mehrmals täglich inne und benennen Sie präzise, welches Gefühl Sie gerade haben (z.B. statt „schlecht“ eher „enttäuscht“, „frustriert“ oder „gestresst“).
- Sinn-Check durchführen: Notieren Sie drei Aktivitäten, die Ihnen das Gefühl geben, etwas Bedeutungsvolles zu tun. Prüfen Sie, wie Sie diesen mehr Raum in Ihrem Alltag geben können.
Der wichtigste Schritt ist der erste. Ob Sie nun eine erste Einschätzung vornehmen, sich über Hilfsangebote informieren oder proaktiv Ihre Resilienz stärken – jeder dieser Schritte ist ein Akt der Selbstfürsorge. Nutzen Sie die hier genannten Ressourcen, um Klarheit für sich zu gewinnen und den für Sie passenden Weg zu finden. Ihre psychische Gesundheit ist es wert.
Häufige Fragen zum Thema psychische Krisen
Was sind die ersten Warnsignale?
Ich habe keine Ruhephasen mehr. Das ist eigentlich das erste Warnsignal – allerdings eins, das viele Menschen übergehen und gar nicht so wahrnehmen.
Welche psychischen Symptome treten bei chronischem Stress auf?
Depressive Verstimmungen oder Angstsymptome, bishin zu manifesten Erkrankungen wie einer Depression oder einer generalisierten Angststörung, Panickattacken.