Published on May 16, 2024

Wahre psychische Resilienz ist kein starrer Panzer, sondern ein dynamisches Schutzschild, das sich an die Art der Krise anpasst.

  • Sie basiert auf 6 trainierbaren Schutzfaktoren, die über die oft zitierten „7 Säulen“ hinausgehen.
  • Der Schlüssel zum Erfolg ist die strategische Entscheidung zwischen Akzeptanz (bei Unveränderlichem) und kognitiver Umstrukturierung (bei Veränderbarem).

Empfehlung: Beginnen Sie nicht mit blindem Aktionismus, sondern messen Sie Ihre aktuelle Resilienz, um gezielt die für Sie wichtigsten Schutzfaktoren zu stärken.

Jeder Mensch erlebt Krisen – sei es der Verlust des Arbeitsplatzes, eine schmerzhafte Trennung oder eine unerwartete gesundheitliche Herausforderung. Doch während manche Menschen an solchen Schicksalsschlägen zerbrechen, scheinen andere gestärkt daraus hervorzugehen. Sie besitzen eine Eigenschaft, die in der Psychologie als Resilienz bezeichnet wird: das psychische Immunsystem unserer Seele. Viele Ratgeber vereinfachen dieses komplexe Thema auf simple Listen wie die „7 Säulen der Resilienz“ oder den Ratschlag, einfach „positiv zu denken“. Doch diese Ansätze greifen oft zu kurz und können im schlimmsten Fall sogar schaden.

Die moderne Resilienzforschung in Deutschland und weltweit zeigt ein differenzierteres Bild. Es geht nicht darum, unverwundbar zu sein oder negative Gefühle zu unterdrücken. Stattdessen ist Resilienz die Fähigkeit, flexibel auf Widrigkeiten zu reagieren, die eigenen Ressourcen zu mobilisieren und sogar an Herausforderungen zu wachsen. Der wahre Schlüssel liegt nicht in einer einzigen Methode, sondern in einem Set aus wissenschaftlich fundierten Schutzfaktoren, die wie ein dynamisches Schutzschild wirken. Es geht darum zu verstehen, wann es sinnvoll ist, eine Situation zu akzeptieren, und wann es gilt, die eigene Denkweise aktiv zu verändern.

Dieser Artikel führt Sie durch die Erkenntnisse der Resilienzforschung. Wir werden die oft übersehenen Unterschiede zwischen wirksamen und schädlichen Strategien beleuchten. Sie lernen, wie Sie Ihre eigene Resilienz valide einschätzen, welche der sechs zentralen Schutzfaktoren für Sie relevant sind und wie Sie diese gezielt trainieren können. Ziel ist es, Ihnen ein praxisnahes Verständnis zu vermitteln, um nicht nur Krisen zu bewältigen, sondern Ihr psychisches Wohlbefinden langfristig von einem „Okay“-Zustand zu einem echten „Aufblühen“ zu führen.

Um Ihnen einen klaren Weg durch dieses vielschichtige Thema zu bieten, ist dieser Artikel strukturiert aufgebaut. Jeder Abschnitt beleuchtet einen spezifischen Aspekt des Resilienzaufbaus, von den wissenschaftlichen Grundlagen bis hin zu konkreten, im Alltag umsetzbaren Übungen.

Warum manche Menschen Krisen meistern und andere daran zerbrechen: die 6 Faktoren?

Die Frage, warum Menschen so unterschiedlich auf Schicksalsschläge reagieren, beschäftigt die Psychologie seit Jahrzehnten. Eine der wegweisendsten Untersuchungen hierzu ist die 40-jährige Langzeitstudie der US-Psychologin Emmy Werner auf der hawaiianischen Insel Kauai. Sie begleitete fast 700 Kinder, von denen viele unter extrem schwierigen Bedingungen aufwuchsen. Überraschenderweise entwickelte sich ein Drittel dieser „Risikokinder“ zu stabilen und zuversichtlichen Erwachsenen. Sie besaßen ein Set an Schutzfaktoren, das ihr „psychisches Immunsystem“ stärkte. Diese Faktoren sind keine angeborenen Superkräfte, sondern erlernbare Verhaltens- und Denkweisen.

Während oft von den „7 Säulen“ gesprochen wird, verdichtet die aktuelle Forschung diese auf sechs zentrale Schutzfaktoren, die die Grundlage für ein dynamisches Schutzschild bilden. Es ist entscheidend, diese nicht als starre Liste, sondern als interagierendes System zu verstehen:

  • Akzeptanz & Optimismus: Die Fähigkeit, unveränderliche Krisen anzunehmen, ohne in die Opferrolle zu verfallen, kombiniert mit der realistischen Zuversicht, dass sich die Situation wieder bessern wird.
  • Selbstwirksamkeitserwartung: Der tiefe Glaube daran, durch eigenes Handeln Einfluss auf das Leben nehmen und Probleme lösen zu können.
  • Lösungsorientierung: Der Fokus liegt nicht auf dem Problem, sondern auf der Suche nach aktiven und kreativen Lösungen.
  • Soziale Unterstützung: Der Aufbau und die Pflege eines stabilen Netzwerks aus Familie, Freunden oder Kollegen, das Halt und Zuspruch gibt.
  • Eigenverantwortung: Das Verständnis, dass man selbst für die eigenen Reaktionen und Entscheidungen verantwortlich ist und aktiv handeln muss.
  • Zukunftsorientierung: Die Fähigkeit, realistische Ziele zu setzen und das eigene Leben aktiv zu gestalten, was in Krisen eine Perspektive gibt.

Diese Faktoren erklären, warum manche Menschen selbst schwere Traumata wie eine posttraumatische Belastungsstörung besser verarbeiten können. Wie aktuelle Forschungserkenntnisse der BARMER zeigen, ist Resilienz hier ein entscheidender Faktor für die Heilung. Es geht also nicht darum, ob man fällt, sondern wie man wieder aufsteht – und diese sechs Faktoren sind die trainierbaren Muskeln dafür.

Wie Sie Ihre aktuelle Resilienz mit einem validierten Test messen?

Bevor man mit dem gezielten Training der Resilienz beginnt, ist eine Bestandsaufnahme sinnvoll. Resilienz ist kein vages Gefühl, sondern eine psychologische Eigenschaft, die wissenschaftlich gemessen werden kann. Ein standardisiertes Messinstrument hilft dabei, die eigenen Stärken und Schwächen innerhalb der Schutzfaktoren zu identifizieren. So können Sie Ihre Energie genau dort investieren, wo sie den größten Effekt hat, anstatt pauschale Ratschläge zu befolgen. Dies ist der erste Schritt, um von einem reaktiven Krisenmanagement zu einem proaktiven Aufbau psychischer Stärke zu gelangen.

Im deutschsprachigen Raum hat sich hierfür die Resilienzskala (RS) nach Wagnild & Young als Goldstandard etabliert. Sie erfasst die Fähigkeit, sich erfolgreich an belastende Lebensumstände anzupassen. Wie gemäß dem psychologischen Fachlexikon Dorsch bestätigt wird, ist die deutsche Version der Skala (RS-25) für Erwachsene umfassend validiert. Das bedeutet, der Test misst zuverlässig das, was er messen soll. Er besteht aus 25 Fragen, die zwei Kernbereiche abdecken: die „persönliche Kompetenz“ (Selbstvertrauen, Unabhängigkeit) und die „Akzeptanz des Selbst und des Lebens“.

Für unterschiedliche Anwendungszwecke existieren verschiedene Versionen des Tests. Während Psychologen und Forscher oft die Langversion nutzen, gibt es auch kürzere, ökonomische Skalen, die für ein schnelles Screening oder die Selbsteinschätzung geeignet sind. Die Wahl der richtigen Version hängt vom Ziel der Messung ab.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die gebräuchlichsten Versionen der Resilienzskala. Sie hilft Ihnen einzuschätzen, welcher Test für eine erste Selbstanalyse oder eine tiefere diagnostische Abklärung infrage kommen könnte.

Versionen der Resilienzskala im Vergleich
Version Items Faktoren Anwendungsbereich
RS-25 25 2 Faktoren Vollständige Erfassung
RS-13 13 2 Faktoren Kurzform für Screenings
RS-11 11 2 Faktoren Ökonomische Kurzskala

Ein solcher Test liefert keine endgültige Diagnose, sondern einen wertvollen Ausgangspunkt. Das Ergebnis zeigt Ihnen, welche Schutzfaktoren bei Ihnen bereits gut ausgeprägt sind und wo es noch Entwicklungspotenzial gibt. Diese Erkenntnis ist die Basis für die Wahl der richtigen Strategien.

Kognitive Umstrukturierung oder Akzeptanz: welche Strategie bei welcher Krise?

Mit dem Wissen um die eigene Resilienz stellt sich die entscheidende strategische Frage: Wie gehe ich konkret mit einer Krise um? Die Resilienzforschung unterscheidet hier zwei fundamentale Wege, die auf den ersten Blick gegensätzlich wirken, aber beide ihre Berechtigung haben: die kognitive Umstrukturierung und die Akzeptanz. Die Kunst der Resilienz liegt darin, zu erkennen, welcher Weg in der jeweiligen Situation der richtige ist. Die Wahl der falschen Strategie kann eine Krise unnötig verlängern oder verschlimmern.

Zwei Wege teilen sich im Wald, symbolisiert die Entscheidung zwischen kognitiver Umstrukturierung und Akzeptanz

Wie das Bild der Weggabelung symbolisiert, müssen wir eine bewusste Entscheidung treffen. Die kognitive Umstrukturierung ist dann sinnvoll, wenn wir es mit veränderbaren Situationen zu tun haben. Hier geht es darum, negative, hinderliche Denkmuster („Das schaffe ich nie“, „Immer passiert mir das“) zu identifizieren und sie durch realistischere, lösungsorientierte Gedanken zu ersetzen. Es ist eine aktive Strategie, um die Kontrolle zurückzugewinnen, indem man die eigene Wahrnehmung der Realität verändert. Dies ist besonders wirksam bei beruflichen Rückschlägen oder lösbaren Konflikten.

Die Akzeptanz hingegen ist die bessere Strategie bei unveränderlichen Umständen. Dazu zählen schwere Schicksalsschläge wie der Verlust eines geliebten Menschen, eine chronische Krankheit oder ein Ereignis aus der Vergangenheit. Hier würde der Versuch, die Situation „positiv umzudeuten“, zu emotionaler Erschöpfung und Selbstverleugnung führen. Akzeptanz bedeutet hier nicht Resignation, sondern das bewusste Annehmen der Realität und der damit verbundenen Gefühle. Es schafft die emotionale Basis, um aus der neuen, unveränderlichen Situation heraus wieder handlungsfähig zu werden. Oft ist eine Kombination beider Strategien am effektivsten: Zuerst die Akzeptanz des Unveränderlichen, gefolgt von der kognitiven Umstrukturierung der eigenen Reaktion darauf.

Warum erzwungenes positives Denken Ihre Resilienz schwächt statt stärkt?

Der weitverbreitete Ratschlag „Denk doch einfach positiv!“ ist einer der größten Mythen in der Resilienzdebatte. Dieses erzwungene positive Denken, auch toxische Positivität genannt, schwächt die psychische Widerstandsfähigkeit, anstatt sie zu stärken. Es fordert uns auf, legitime negative Gefühle wie Trauer, Wut oder Angst zu unterdrücken und mit einer Fassade aus aufgesetzter Fröhlichkeit zu überdecken. Das ist nicht nur unehrlich uns selbst gegenüber, sondern auch extrem anstrengend. Es verhindert die notwendige emotionale Verarbeitung, die für die Bewältigung einer Krise essenziell ist. Wer seine Gefühle ignoriert, lässt sie im Verborgenen weiter schwelen, wo sie langfristig zu Burnout oder anderen psychischen Belastungen führen können.

Resiliente Menschen sind keine naiven Optimisten, die das Negative ausblenden. Sie praktizieren stattdessen einen „tragischen Optimismus“, ein Konzept, das der Psychiater Viktor Frankl prägte. Es beschreibt die Fähigkeit, das Leben trotz seines unvermeidlichen Leids zu bejahen. Wie die Auseinandersetzung mit Frankls Ideen zeigt, ist der erste Schritt zur Krisenbewältigung die Akzeptanz. Wir müssen uns eingestehen, dass es uns schlecht geht und die Situation schwierig ist. Dieser ehrliche Umgang mit der Realität ist die Grundlage, um wieder handlungsfähig zu werden.

Auch die moderne Resilienzforschung untermauert diesen differenzierten Ansatz. Es geht nicht um blindes positives Denken, sondern um einen konstruktiven Bewertungsstil. Der renommierte deutsche Forscher Prof. Dr. Raffael Kalisch vom Leibniz-Institut für Resilienzforschung betont genau diesen Punkt. Wie er in seiner Theorie darlegt:

Prof. Dr. Kalisch geht in seiner Resilienztheorie PASTOR davon aus, dass vor allem ein positiver Bewertungsstil zu geringerem Stresserleben führt.

– Prof. Dr. Raffael Kalisch, Leibniz-Institut für Resilienzforschung

Ein positiver Bewertungsstil bedeutet, eine Situation nicht als unüberwindbare Katastrophe zu sehen, sondern als Herausforderung, die bewältigt werden kann. Es ist die Fähigkeit, auch in schwierigen Lagen den Blick für das Ganze zu behalten und Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen. Dies ist ein fundamentaler Unterschied zum Zwang, sich um jeden Preis „gut fühlen“ zu müssen.

Wie Sie Ihre Resilienz in 8 Wochen durch gezielte Übungen messbar steigern?

Resilienz ist, ähnlich wie ein Muskel, durch gezieltes und regelmäßiges Training formbar. Es reicht nicht aus, die theoretischen Konzepte zu kennen; entscheidend ist die praktische Anwendung im Alltag. Strukturierte Programme, wie zum Beispiel ein 8-Wochen-Training, bieten einen bewährten Rahmen, um die verschiedenen Schutzfaktoren systematisch zu stärken. Der Fokus liegt dabei auf der Integration kleiner, aber konsequenter Übungen, die nach und nach zu neuen, resilienten Gewohnheiten werden. Ein solches Vorgehen macht den Fortschritt nicht nur spürbar, sondern auch messbar, beispielsweise durch eine erneute Durchführung eines Resilienz-Tests nach Abschluss des Programms.

Ein typisches 8-Wochen-Programm zur Stärkung der Resilienz könnte beispielsweise folgende Bausteine enthalten, die aufeinander aufbauen:

  1. Woche 1-2: Schulung der Selbstwahrnehmung. Führen Sie ein tägliches Tagebuch, in dem Sie nicht nur Ereignisse, sondern vor allem Ihre Gefühle und Reaktionen darauf festhalten. Dies schärft den Blick für eigene Denkmuster.
  2. Woche 3-4: Stärkung des sozialen Netzwerks. Nehmen Sie sich bewusst Zeit für Menschen, die Ihnen guttun. Pflegen Sie aktiv Kontakte und scheuen Sie sich nicht, um Unterstützung zu bitten.
  3. Woche 5-6: Integration von Achtsamkeitsübungen. Praktizieren Sie täglich 10 Minuten Meditation oder andere Achtsamkeitsübungen. Dies hilft, aus dem Gedankenkarussell auszusteigen und im Hier und Jetzt anzukommen.
  4. Woche 7-8: Training der Lösungsorientierung. Nehmen Sie sich ein kleines, alltägliches Problem vor und entwickeln Sie bewusst drei verschiedene Lösungsansätze, anstatt über das Problem zu grübeln.

Diese Übungen wirken auf die verschiedenen Schutzfaktoren ein und stärken das psychische Immunsystem ganzheitlich. Der Schlüssel zum Erfolg ist nicht die Intensität, sondern die Regelmäßigkeit. Bevor Sie jedoch ein solches Programm beginnen, ist ein ehrlicher Blick auf Ihre aktuellen Routinen und Denkweisen entscheidend.

Ihr 5-Punkte-Audit zur Resilienz-Stärkung: Wo stehen Sie wirklich?

  1. Netzwerk-Analyse: Listen Sie die 5 wichtigsten Personen auf, an die Sie sich in einer Krise wenden würden. Haben Sie in den letzten 4 Wochen mit jeder dieser Personen aktiv Kontakt gehabt?
  2. Akzeptanz-Check: Identifizieren Sie eine aktuelle, frustrierende Situation, die Sie nicht ändern können. Notieren Sie, wie viel Zeit Sie täglich mit Ärgern oder Grübeln darüber verbringen.
  3. Selbstwirksamkeits-Inventur: Schreiben Sie drei kleine Erfolge der letzten Woche auf, die Sie durch Ihr eigenes Handeln erreicht haben (z.B. eine Aufgabe erledigt, ein Gespräch geführt).
  4. Lösungsfokus-Test: Konfrontiert mit einem neuen Problem – was ist Ihre erste, automatische Reaktion? Suchen Sie sofort nach Schuldigen/Gründen oder nach dem ersten kleinen Schritt zur Lösung?
  5. Zukunfts-Scan: Haben Sie ein klares, positives Ziel (beruflich oder privat), auf das Sie in den nächsten 3 Monaten hinarbeiten? Ist dieses Ziel konkret und realistisch formuliert?

Wie Sie mit dem PERMA-Modell Ihre größte Wohlbefindens-Lücke finden?

Resilienz ist mehr als nur Krisenbewältigung. Wahre psychische Stärke entsteht, wenn wir nicht nur Leid minimieren, sondern aktiv unser Wohlbefinden maximieren. Hier setzt die Positive Psychologie an, deren Ziel es ist, Menschen vom bloßen Funktionieren zum Aufblühen (Flourishing) zu bringen. Einer ihrer Begründer, Martin Seligman, fasst diesen Paradigmenwechsel prägnant zusammen:

Die Positive Psychologie fragt: ‘Wie kann das psychische Wohlbefinden eines Menschen erhöht werden?’ – im Gegensatz zur ansonsten vorherrschenden Frage: ‘Wie kann das psychische Leiden eines Menschen vermindert werden?’

– Martin Seligman, Begründer der Positiven Psychologie

Um dieses „Erhöhen“ greifbar zu machen, entwickelte Seligman das PERMA-Modell. Es beschreibt fünf zentrale Bausteine, die für ein erfülltes Leben und hohes Wohlbefinden entscheidend sind. Das Modell dient als eine Art Landkarte der eigenen Zufriedenheit. Indem Sie ehrlich reflektieren, wie stark jeder dieser fünf Bereiche in Ihrem Leben ausgeprägt ist, können Sie gezielt Ihre größte „Wohlbefindens-Lücke“ identifizieren und aktiv daran arbeiten. Es ist ein Werkzeug, das den Blick von dem, was fehlt, auf das lenkt, was gestärkt werden kann.

Die fünf Säulen des PERMA-Modells sind universell, lassen sich aber sehr gut auf den deutschen Kulturkontext übertragen. Die folgende Tabelle veranschaulicht die Bedeutung jeder Säule und gibt konkrete Beispiele, wie diese im Alltag in Deutschland gelebt werden können.

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und bewerten Sie für sich selbst jeden der fünf Bereiche auf einer Skala von 1 bis 10. Der Bereich mit der niedrigsten Punktzahl ist Ihr größter Hebel, um Ihr allgemeines Wohlbefinden und damit auch Ihre Resilienz signifikant zu steigern.

Wie Sie chronischen Stress in 3 Phasen über 6 Monate abbauen?

Während akuter Stress eine normale und sogar nützliche Reaktion des Körpers ist, stellt chronischer Stress eine ernsthafte Gefahr für die psychische und physische Gesundheit dar. Er erschöpft die Energiereserven, schwächt das Immunsystem und untergräbt die Resilienz von Grund auf. Viele Betroffene befinden sich in einem Teufelskreis aus Überforderung, Erschöpfung und sinkender Leistungsfähigkeit, der oft im Burnout mündet. Laut Angaben von Resilienz-Experten zählt Burnout zu den häufigsten Ursachen für langfristige Krankschreibungen in Deutschland. Der Abbau von chronischem Stress ist daher keine Frage von ein paar Entspannungsübungen, sondern erfordert einen strukturierten, mehrphasigen Ansatz.

Das deutsche Gesundheitssystem bietet hierfür einen klaren Weg, der sich grob in drei Phasen über einen Zeitraum von etwa sechs Monaten gliedern lässt. Dieses Modell kombiniert sofortige Entlastung mit langfristiger Prävention und ist ein gutes Beispiel für angewandte Resilienzförderung im Umgang mit einer ernsten Gesundheitsbedrohung.

  1. Phase 1 (Monat 1-2): Akuthilfe und Entlastung. In dieser Phase geht es darum, die Notbremse zu ziehen. Der erste und wichtigste Schritt ist die Konsultation des Hausarztes. Dieser kann die Schwere der Belastung einschätzen und gegebenenfalls eine Krankschreibung ausstellen, um den Betroffenen aus dem direkten Stressumfeld zu entfernen. Psychosoziale Beratungsstellen oder die Telefonseelsorge können ebenfalls sofortige emotionale Unterstützung bieten.
  2. Phase 2 (Monat 3-4): Analyse und Ursachenforschung. Sobald eine erste Stabilisierung erreicht ist, beginnt die Detektivarbeit. Welche konkreten Stressoren führen zur Überlastung? Hier kann eine psychotherapeutische Begleitung helfen. Im beruflichen Kontext kann eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung am Arbeitsplatz initiiert werden, um systemische Probleme zu adressieren.
  3. Phase 3 (Monat 5-6): Langfristige Veränderung und Prävention. In der letzten Phase werden nachhaltige Strategien entwickelt. Dies kann die Beantragung einer präventiven Rehabilitationsmaßnahme (Reha) über die Deutsche Rentenversicherung umfassen. Ziel ist es, neue Routinen, Stressbewältigungstechniken und Verhaltensweisen zu etablieren, um einen Rückfall zu verhindern und die Resilienz langfristig zu stärken.

Dieser strukturierte Prozess zeigt, dass der Weg aus dem chronischen Stress kein Sprint, sondern ein Marathon ist. Er erfordert Eigeninitiative, professionelle Hilfe und eine Veränderung der Lebensumstände.

Das Wichtigste in Kürze

  • Resilienz ist keine angeborene Eigenschaft, sondern ein dynamisches System aus sechs trainierbaren Schutzfaktoren.
  • Der Schlüssel liegt in der strategischen Wahl zwischen Akzeptanz (für Unveränderliches) und kognitiver Umstrukturierung (für Veränderbares).
  • Aktives Wohlbefinden durch Modelle wie PERMA ist die beste Prävention und stärkt die Widerstandsfähigkeit, bevor eine Krise eintritt.

Wie Sie Ihr psychisches Wohlbefinden aktiv steigern: von OK zu flourishing

Der Aufbau von Resilienz ist kein rein reaktiver Prozess, der erst in der Krise beginnt. Die wirksamste Form der Krisenprävention ist der proaktive Aufbau eines hohen psychischen Wohlbefindens. Es ist der Unterschied zwischen „nicht krank sein“ und „gesund und aufblühend sein“ – ein Zustand, den die Positive Psychologie als „Flourishing“ bezeichnet. Menschen in diesem Zustand verfügen über ein so robustes Fundament aus positiven Emotionen, stabilen Beziehungen und Sinnerleben, dass sie von vornherein besser gegen die Stürme des Lebens gewappnet sind. Ihr psychisches Immunsystem ist bereits vor dem Kontakt mit dem „Erreger“ der Krise gestärkt.

Die Forschung fasst die Eigenschaften resilienter Menschen, die diesen Zustand oft erreichen, gut zusammen. Sie haben gelernt, dass Handeln etwas bewirkt, und erachten ihr Leben als sinnvoll. Sie verfügen über ein stabiles soziales Netz und ein realistisches Selbstbild, das ihnen hilft, ihre Ziele und Träume besser einzuschätzen. Vor allem aber zeichnen sie sich durch Zuversicht aus, die nicht auf naiver Schönfärberei beruht, sondern auf der tiefen Überzeugung: „Jetzt ist es schwer, aber es wird besser.“ Diese Haltung ermöglicht es ihnen, Krisen nicht nur zu überstehen, sondern sie als Chance für die persönliche Weiterentwicklung zu nutzen.

Der Weg von einem durchschnittlichen „Okay“-Gefühl zum „Flourishing“ ist ein bewusster Prozess der Selbstfürsorge und Persönlichkeitsentwicklung. Es bedeutet, die im PERMA-Modell identifizierten Lücken gezielt zu füllen: sich bewusst Zeit für positive Erlebnisse zu nehmen, sich in Aktivitäten zu vertiefen, die einen fesseln (Flow), Beziehungen aktiv zu pflegen, nach Sinnhaftigkeit im eigenen Tun zu suchen und sich über erreichte Ziele zu freuen. Jeder dieser Schritte ist ein aktiver Beitrag zur Stärkung Ihres inneren Schutzschildes und macht Sie widerstandsfähiger für zukünftige Herausforderungen.

Beginnen Sie noch heute damit, Ihr psychisches Wohlbefinden aktiv zu gestalten. Nutzen Sie das Audit aus diesem Artikel als Ihren persönlichen Startpunkt und machen Sie den ersten kleinen Schritt, um nicht nur Krisen zu bewältigen, sondern an ihnen zu wachsen.

Das PERMA-Modell im deutschen Kontext
PERMA-Säule Bedeutung Deutsche Beispiele
P – Positive Emotions Positive Gefühle Feierabend im Biergarten, ein Spaziergang im Wald
E – Engagement Flow-Erleben Intensive Beschäftigung im Vereinsleben, Konzentration auf ein Hobby
R – Relationships Beziehungen Der wöchentliche Stammtisch, enge Familienbande
M – Meaning Sinnhaftigkeit Ein Ehrenamt ausüben, soziales Engagement in der Gemeinde
A – Accomplishment Zielerreichung Ein berufliches Projekt erfolgreich abschließen, einen Marathon laufen
Written by Dr. Michael Fischer, Dr. Michael Fischer ist approbierter Psychologischer Psychotherapeut mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie und Stressbewältigung seit 14 Jahren. Er leitet eine psychotherapeutische Praxis in Frankfurt am Main, die auf Burnout-Prävention, Resilienz-Training und die Behandlung stressbedingter psychischer Erkrankungen spezialisiert ist.